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Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt | Lilian Schwerdtner

„Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt“ von Lilian Schwerdtner

„Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt. Ein Plädoyer für Kollektivität und Selbstbestimmung“ von Lilian Schwerdtner

Rezension

Spätestens nach den Forderungen des Runden Tisches Sexueller Kindesmissbrauch 2010 ist öffentlich über Vieles diskutiert worden, was in unserer Gesellschaft präventiv und intervenierend gegen sexualisierte Gewalt getan werden sollte und auch könnte. Die Möglichkeit ist jedoch immer noch nicht mit dem guten Willen, und schon garnicht mit der guten Tat gleichzusetzen. Es passiert wenig oder, anders gesagt, es wird weiterhin viel geschwiegen. In ihren Hochphasen verteilt unsere Regierung einige gut gemeinte Feigenblätter. Hier ein paar Podiumsdiskussionen dort ein paar Kampagnen – ich möchte nicht wissen, wieviel Geld da verpulvert wurde. Und für was …? Um so lieber verlasse ich mich da auf Menschen wie Lilian Schwerdtner.

Die derzeitige sozial-politische Haltung: Keine Zeit, kein Geld, kein Interesse.
VERÄNDERN WIR DIE HERRSCHENDEN MACHTVERHÄLTNISSE!

Im Hochschulkontext wird Sexualisierte Gewalt unter dem Label Diskriminierung geführt. Weiter fallen darunter die Individuelle, Institutionelle, Kollektive, Strukturelle, Direkte, Indirekte, Negative, Positive, Religiöse, Rassistische und Transgender-Diskriminierung, sowie die Diskriminierungen aufgrund der Mutterschaft, einer Behinderung oder einer Krankheit, wegen des Alters oder des Aussehens und wegen einer politischen Ideologie. Diese Auflistung ist dem Argument derer geschuldet, die verteidigend rufen: „Es gibt ja noch so viel Schreckliches in unserer Gesellschaft. Sexualisierte Gewalt ist doch nicht das einzige Problem, XYZ-Diskriminierung braucht auch Beachtung und überhaupt, wer soll das denn alles bezahlen?“ Menschen, die so argumentieren, übersehen meiner Meinung nach, wie eng die verschiedenen Diskriminierungsarten miteinander verwoben sind. Meine These, und in diesem Sinne verstehe ich auch das unbedingt empfehlenswerte Buch von Lilian Schwerdtner, lautet: Verändern wir die herrschenden Machtverhältnisse und -strukturen, sowie den aktuell gelebten Kapitalismus zum Positiven, und wir arbeiten gemeinsam effektiv gegen die oben genannten Diskriminierungsformen und demnach auch gegen sexualisierte Gewalt! Die Antwort auf die Frage, wer das bezahlen soll, liegt somit auf der Hand: Die Reichen bitte! Eine Politik, die sexualisierte Gewalt immer noch als lästig empfindet und deshalb ignoriert, ist meiner Meinung nach nicht an einer höheren Lebensqualität für ihre Wähler:innen interessiert. Die Autorin gibt in ihrem Buch viel Anreiz, über diese Ver- und nicht zuletzt Beschränktheit unserer Lebensrealitäten nachzudenken, sich mental positiv für sich und andere zu entwickeln und handlungssicher(er) zu sein oder zu werden.

Gesellschaftlicher Umgang? Da ist noch Luft nach oben!

Der Klappentext verrät „Spätestens die Reaktionen auf #MeToo haben gezeigt, dass das Sprechen über sexualisierte Gewalt selbst von Gewalt geprägt ist, die Betroffene zum Schweigen bringt: eine zweite Gewalterfahrung.“ Es ist nun einmal von entscheidender Bedeutung, ob mir als Betroffene:r, der:die das Schweigen bricht, unterschwellig oder direkt, eine Mitverantwortung für die erlebte sexualisierte Gewalt gegeben wird. Lilian Schwerdtner zeigt auf, dass sich Unsensibilität auf sehr vielen Ebenen abspielen kann. Da wir uns gerade in einer Zeit des Outings als Opfer und dessen Akzeptanz befinden, wird dadurch unser gesellschaftliches Selbstbild erhöht. Sprachlich und in (aufgemotzten) politischen Veranstaltungsreihen mag Bewegung gekommen sein, in der Praxis wird ein Opfer jedoch immer noch weitestgehend als bedauernswert abgestempelt. Selbstbestimmtes Sprechen, was die Autorin als eine Form der Prävention bezeichnet, wird selten mitgedacht oder ermöglicht. In ihrem Buch spricht sie diese unterschiedlichen Ebenen an und zeigt auf, warum sensible, traumatisierte Menschen wegen des fehlenden Wissens der Anderen den Rückzug antreten.

Warum das Werk Hoffnung in mir auslöst

Lilian Schwerdtner beschreibt den gesellschaftlichen Nicht-Umgang als einen Komplex aus „Schweigen, Entstimmlichung und Reglementiertem Sprechen„. Das Umfeld verhält sich achtlos, ignoriert Warnsignale oder will sich definitiv nicht mit dem Thema beschäftigen. Das führt dazu, dass das respektlose und grenzverletzende Verhalten von Täter:innen miteingeplant wird, „denn sie wissen, dass Betroffene sich nur wenigen Menschen offenbaren“. 1996 nannte Rommelspacher dieses Phänomen Verbrechen mit geringem Risiko. Lilian Schwerdtner arbeitet heraus, wie entscheidend es ist, dass die Zuhörer:innen solidarisch zuhören und glauben, was ihnen erzählt wird. Denn echte, solidarische Unterstützung kann nur gelingen, wenn sie sich selbst zurücknehmen, einfach mal die Klappe halten, sich bitte konzentrieren und dem Gegenüber Raum geben. Die Autorin fordert Anerkennung statt einer Aberkennung des Status als autonomes, selbstbestimmtes Subjekt. Betroffene sind als wertvolle, handlungsmächtige Personen anzuerkennen. Punkt.

Alternativen zum richtigen Leben im Falschen

Vor vielen Jahren gehörte ich einer Gruppe Betroffener an, die den Betroffenenrat (BR) des UBSKM (Unabhängiger Beauftragter zu Fragen des sexuallen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig) initiiert haben. Diese Möglichkeit unserer Teilnahme kann als Akt der Anerkennung betrachtet werden. Fallstrick: Betroffene, die sich (plötzlich) wirkmächtig fühlen, brauchen auch Sensibilität für diejenigen, für die sie stellvertretend agieren. Hierfür fehlt nach meinen Erfahrungen beim BR jedoch der Raum. Und so verstehe ich auch die Autorin, die davon spricht, dass die Aktivist:innen in dem Moment einen Teil ihrer Macht (wieder) abgeben, wenn sie den Posten behalten möchten. Ich schließe mich dem Tenor voll und ganz an, sich als Betroffene in Selbsthilfe- oder Politgruppen zusammenzuschließen. Denn dann, wie Lilian Schwerdtner sagt, wird es zur Normalität, über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Ich möchte noch ergänzen, dass es sich dabei vorerst „nur“ um Schutzräume handelt kann. Dennoch empowert diese Vorgehensweise ungemein und macht es viel selbstverständlicher, auch im Außen den Mut aufzubringen, zu sprechen. Dabei kann es darum gehen, sich Unterstützung für sich selbst zu organisieren oder auch, um in der Öffentlichkeit die eigene Meinung zu äußern bis dahin, für unsere Rechte zu kämpfen.

Wunderbar!

Nicht alle Fach- und Fremdwörter waren mir geläufig und einige Sätze musste ich zweimal lesen. Zur Offenlegung der Täter:innennamen werde ich noch rumdenken und kann mich bisher an dieser Stelle noch nicht für die Haltung der Verfasserin begeistern. Und auch deshalb, weil das Buch viele Denkanstöße gibt, möchte ich es den am Thema Interessierten wärmstens ans Herz legen. „Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt. Ein Plädoyer für Kollektivität und Selbstbestimmung“ – ein ganz herzliches Dankeschön an die Autorin für dieses Buch und eine tiefe Verneigung vor einem gelungenen Beitrag für Fachleute und Betroffene.

Nachwort

Das Lesen des Buchs hat noch etwas ganz anderes in mir ausgelöst. Denn mir hat besonders der Gedanke gefallen, der sich damit beschäftigt, warum manches für mich als Betroffene schwer zu nehmen ist. Es war eine Erhellung, zu lesen, dass es dabei um das Ins-Wankenbringen der eigenen Ordnung geht (vgl. S. 52). Ein Beispiel: Vor einiger Zeit habe ich meine Lesebrille und das dazugehörige Etui verloren. Die Brille ist schnell und für wenig Geld neu zu beschaffen. Bei dem Brillenetui ist es schade, denn es ist eine kunsthandwerkliche Kooproduktion einer lieben Bekannten und mir gewesen. Es hatte also einen ideellen Wert für mich. Der optische, und besonders der haptische Genuss beim Benutzen des Etuis waren für mich von großer, emotional tiefer Bedeutung. Es gab mir Ruhe und Sicherheit. Die Traurigkeit, die ich empfunden habe, stand dennoch in keinem Verhältnis zu dem Verlust, das sagte mir mein Verstand. Trotzdem war ich bis zum Lesen des 2. Kapitels „Keine Worte: Nicht sprechen können oder nicht sprechen wollen“, unter der Überschrift „Traumatisierung, Retraumatisierung und Pathologisierung“ tief traurig; und ich bin es immer noch ein bisschen, wenn ich an das kleine blaue, gefilzte Etui mit den angenähten wunderschönen Perlen und Steinchen sowie dem zauberhaften Knopf denke. In dem Kapitel geht es um die innere Ordnung des Selbst. Es hat mir geholfen, mein starkes Verlustgefühl zu lindern. Ich habe den Inhalt des Textes auf meine persönliche, aktuelle Situation übersetzt und eine neue Ordnung für meine Trauer erschaffen. Meine auf Grundlage des Textes geführte innere Auseinandersetzung hat dazu geführt, das ich inzwischen anders denke und fühle. Meine Gedanken gehen jetzt in folgende Richtung: Vielleicht wurden die Gegenstände von einer Person gefunden, die sich sehr darüber gefreut hat, weil sie die die Brille gut gebrauchen kann und das Etui genauso schön findet, wie ich. Mit dieser innerlichen Aufräumaktion, und der dar aus resultierenden, neu definierten Ordnung in mir, empfinde ich den Verlust als wesentlich leichter. Hinzu kommt das Gefühl der Freude, weil ich mir vorstelle, dass sich ein anderer Mensch freut. Ich kann mich wieder auf das Hier und Jetzt oder was auch immer konzentrieren, statt mich gedanklich zu quälen, wo ich denn das geliebte Etui verloren haben könnte und wie schrecklich es ist, dass ich es nicht mehr fühlen kann. Als traumatisierter Mensch eine wirklich erleichternde Erkenntnis, denn sie schenkt Lebensqualität.